Kommet, ihr Hirten!

Das Fest der Feste steht bevor:

Auf der Unspunnenwiese feiert die Schweiz sich selbst

Fotos: Tina Steinauer

 

Alle zwölf Jahre nur findet auf einer abgeschiedenen Waldwiese bei Interlaken das Unspunnen- fest statt, die "Olympiade der Schweizer Volksbräuche". Vor zweihundert Jahren ins Leben gerufen, "um die ehrwürdigen Sitten unserer oberländischen Hirtenvölker nicht gänzlich untergehen zu lassen", war das Fest von Beginn an ein Politikum. Es sollte zur Aussöhnung zwischen der Stadt Bern und dem unruhigen Oberland beitragen. Findige Eventmanager entwarfen ein attraktives Konzept, lancierten Vorberichte in den Medien, bewarben das Spektakel im In- und Ausland. Etliche "Volkslieder" wurden komponiert, Trachten und Traditionen wiederbelebt, und vor der erhabenen Kulisse von Eiger, Mönch und Jungfrau bot man das Schauspiel eines alpinen Arkadiens. Prompt wirkte es als Initialzündung für den Fremdenverkehr.

Doch nach zwei Festen schon griff die vaterländische Begeisterung derart um sich, daß die Regierung eine Wiederholung untersagte. Erst 1905 und dann noch einmal 1946 wurden die Hirtenspiele reanimiert. Seither haben sie sich als nationales Großritual etabliert. Historisch ein Unikum, organisatorisch ein Monster, kulturell ein Hochgenuß. Allein 7000 Aktive werden im September 2006 in Interlaken erwartet. Wir besuchten einige davon: Alphornbläser und Steinstößer, Sänger und Schwinger, Trachtenträger und Jodlerinnen. Sie alle werden dabeisein, wenn es, ganz wie anno 1805, wieder heißt: "Söhne des Hochgebirgs, beginnt eure kraftvollen Spiele!"

 

Roland Stählin, Steinstößer, Lachen (Schwyz)
Man braucht nichts weiter als ein Paar Turnschuhe und einen schweren Brocken. Steinstoßen ist ein recht unkomplizierter Sport. Er benötigt auch keine großen Stadien, denn weit fliegen die Wurfgeschosse nicht. Schon gar nicht der 167 Pfund schwere, elliptisch geformte Unspunnenstein. Roland Stählins Bestleistung liegt bei 3, 97 Metern, einer der weitesten Würfe aller Zeiten. Die Geschichte dieses Steins verlief noch abenteuerlicher als die des Festes. 1984 wurde er zum Beispiel entführt. Jurassische Separatisten, heißt es, hätten ihn mit Hilfe einer Bahre aus dem Tourismusmuseum entwendet. Ein Duplikat mußte bereitgestellt werden, das seither alarmgesichert in einer Bank ruht. Vor einigen Jahren tauchte das Original dann wieder auf - und kam aus Sicherheitsgründen zunächst ins Gefängnis. Die ganze Geschichte trug noch einmal gehörig zum Mythos dieses Brockens bei. Er ist der Stein der Steine, Helvetiens heiliger Gral. Abgesehen von seiner Schwere werfe er sich ausgesprochen angenehm, befindet Stählin. Er liege gut und ruhig in der Hand. So viele Steine er auch stößt - dieser bedeutet ihm am meisten. Sicher auch, weil man nur alle zwölf Jahre zwei Versuche damit hat. Da braucht es auch innere Stärke. An einem nahen Bach hat Stählin seinen Kraftort gefunden. Dort geht er im Geiste wieder und wieder alle Bewegungen durch, das Drehen des Steins, das Aufheben, das Unterfassen vor der Brust, das Stemmen, das Schleudern. Wie er so übt mit einem imaginären Stein, wirkt er unerwartet anmutig, ein graziöser Koloß, ein tanzender Obelix. Auch beruflich handhabt Stählin schweres Gerät. Er fährt einen Muldenkipper, groß wie ein Haus, transportiert Bauabfälle, Schwerlasten, Umzugsgut. Wenn es in Lachen Klaviere oder Bauernschränke zu befördern gibt, dann muß der Roli ran. Nur Tresore seien etwas mühsam, räumt er ein, vor allem treppab. Aber er hat das im Griff, hat überhaupt ein feines Gefühl für große Gewichte. Gelegentlich zieht er andere damit auf: "Sage mir, wie schwer du bist, und ich sage dir, wie weit du fliegst."

 

Walter und Barbara Giger, Jodler und Musikantin, Teufen (Appenzell)
Wenn Walter Giger von fern seine Kühe herbeiruft, lockt er sie mit begütigender Stimme. Instinktiv verfällt er dabei in einen Sprechgesang, auf halbem Weg zwischen Ruf und Arie. Ja, so könnte es gewesen sein, so könnte das Jodeln sich aus der Arbeit der Hirten heraus entwickelt haben. Verwegene Volkskundler meinen gar, die Sennen hätten die Konturen der umgebenden Berge nachgesungen, hätten in den Aufschwüngen, Bögen und Abstürzen ihrer Jodler die jeweilige Landschaft vertont. Dann hätten Gigers Vorfahren meist gravitätische Weisen gesungen, denn der Säntis erhebt sich weit und mächtig hinter seinem Hof. In Appenzell wird der Naturjodel noch gepflegt. Nie wurden diese Melodien aufgeschrieben, immer nur mündlich überliefert. Reine A-cappella-Stücke, ohne Begleitung, ohne Text, selbst ohne Titel. Weit weg von der gängigen Volldampf-Folklore, vom manischen Hochgefühl der Virtuosen, berühren sie vielmehr durch ihren schwermütigen Ernst. Walter und Barbara Giger sind dennoch lustige Leute. Wenn sie nun wieder aufs Unspunnenfest fahren, hat es damit eine besondere Bewandtnis. Denn dort haben sie sich vor zwölf Jahren kennengelernt, am Bahnhof Interlaken West, wo beide mit ihren Musikgruppen antraten, um Neuankömmlinge zu begrüßen. Während sie ihm gleich ins Auge stach "wie einem Jäger das Wild", waren ihre ersten Gedanken scheinbar enthaltsamerer Natur: "Der ist sicher ein glücklicher Familienvater." Während des Festes trieben sie dann im allgemeinen Trubel dahin, sahen sich nur flüchtig beim Feldgottesdienst und im Nachtclub des Grand Hotels. Selbst dort, erinnert sich Barbara, wurde an diesem Abend gejodelt. Schmuck und stattlich erschien der Walter ihr da in seiner Appenzeller Festtagstracht. Als sie sich später zum ersten Mal in Zivil trafen, kam er ihr prompt etwas gewöhnlich vor. Geheiratet haben sie trotzdem. Längst ist er der glückliche Familienvater, den sie damals am Bahnhof in ihm zu sehen glaubte.

 

Raymonde Froidevaux, Geschichtenerzählerin, Le Bémont (Jura)
Sie übe das älteste Gewerbe der Welt aus, bekennt sie keck. Geschichtenerzähler seien die ersten Profis gewesen, Spezialisten für Unterhaltung und Welterklärung. Das Bedürfnis danach sei in jedem Menschen angelegt. Deshalb fiele aller Anfang leicht: Es war einmal ein König - mehr brauche es kaum, um die Zuhörer anbeißen zu lassen. Sie dann bei Laune zu halten, sei schon schwieriger. Die wahre Kunst jedoch sei das Finale: "Im Ende liegt alles." Ob sie nun Märchen, Parabeln oder erotische Geschichten erzählt, stets hält sie den Schluß zurück wie eine Geisel. Sie allein entscheidet, wann und wie diese freikommt. So schlägt sie das Publikum in ihren Bann, selbst Jugendliche, die von Fernsehen und Computer geprägt sind und sonst keine fünf Minuten mehr still sitzen können. Am liebsten erzählt sie im Wald. "Da steht man schon mitten in einem Mysterium." Schon gar in den Märchenwäldern des Jura mit ihren tannenumstandenen Weihern, den libellenumschwirrten Mooren und den zaunlosen Weiden, auf denen das Vieh frei herumspaziert. Selbst Kühe geben übrigens mehr Milch, wenn man ihnen Geschichten vorträgt, weiß Froidevaux. Für jedes Publikum findet sie die richtige Thematik. Im Katechismusunterricht bringt sie den Kleinen die Geschehnisse der Bibel nahe - und gibt wenig später in fröhlicher Runde köstliche Zoten zum Besten. Mühelos wechselt sie zwischen Bethlehem und Place Pigalle, zwischen erbaulicher Legende und schlüpfrigem Witz. "Beides hat seine Wahrheit." Eine höchst erstaunliche Madame, diese Schweizer Scheherazade. Auch in ihrem Beruf als Krankenpflegerin kommt ihr dieses Talent zugute. Selbst dann, wenn manche Patienten gar nicht mehr erreichbar sind; auch die Angehörigen brauchen schließlich Zuspruch. Und enden nicht gerade Geschichten, die vom Tode handeln, häufig mit "... c' est la vie"?

 

Oberländerchörli, Interlaken (Berner Oberland)
Nein, diese Juryberichte! "Die punktierte Note in Liedtakt 16 dürfte ein wenig länger gehalten werden." Doch ohne Jury keine Auszeichnung, ohne Auszeichnung kein Wettstreit und ohne Wettstreit kein Unspunnenfest. Schließlich sind es ja nicht nur die Schwinger, die sich dort messen. Auch die Sänger wollen glänzen und gewinnen. Schon innerhalb des Chores wetteifern sie um die schönsten Stimmen, und dann erst recht die Ensembles untereinander. Das Oberländerchörli hat in den gut fünfzig Jahren seines Bestehens eine Balance zwischen Ehrgeiz und Ehrlichkeit erreicht. Sie wollen Anklang finden, doch sie müssen nicht dominieren. Sie singen auch für Touristen, aber sie machen keine Show daraus. In Aarau treten sie genauso gerne auf wie in Arizona. "Etwas teilen, das man liebt" - darauf läuft es wohl hinaus. Regina Ramseier wägt ihre Worte sorgsam, wenn sie über ihr jahrzehntelanges Engagement im Chor nachdenkt. Sie spricht vom "Seelenwohl", vom "Heimatstolz" und von der Tradition als einem "Halt im Leben". So wie man beim Singen sein Herz offenbare, so trage man auch die Tracht "von innen heraus". Sie sei Ausdruck einer Haltung, übermittle etwas von der Persönlichkeit und von der Kultur. Ramseier fühlt sich derart wohl in ihrer zweiten Haut, daß sie sie zwischendurch ganz vergisst. Und sich dann wundert, warum die Leute sie anstarren und fotografieren. Erst dadurch wird sie wieder gewahr, daß sie ja das samtene Mieder trägt, den längsgestreiften Schurz, die selbstgestrickten Strümpfe, die Silberfiligranbrosche und die Schleierkrone aus Roßhaar. Daß sie einer Tradition anhängt, die in vielem das Gegenteil heutiger Moden darstellt. Früher sangen die Leute auch mehr. Beim Kochen, beim Abwasch, bei der Feldarbeit. Nie wird sie vergessen, wie ihre Großmutter beim Kirschenpflücken jodelte. Rein aus Freude und Lebenslust. Deshalb hat sie dieses Lied bis heute noch im Ohr. Und nicht, weil die punktierte Note in Takt 16 so akkurat gehalten wurde.

 

Markus, Michael und Hans-Peter Pellet, Schwinger, Alterswil (Fribourg)
Ein Fest ohne Schwinger ist keines. Eher würden die Leute noch aufs Bier verzichten. Zu den großen Ausscheidungen kommen zehntausende von Besuchern. Ein echter Volkssport also, zumindest wenn es ums Zuschauen geht. So sähe sich der Schweizer Mann am liebsten: stumm und stark. Geschmeidig und doch unverrückbar. Kräftig, aber auch behende. Noch wenn zwei Zentner ihn zu Boden drücken, bäumt er sich zur Brücke hoch und kommt wieder frei. Und wenn der andere auch nur einen Augenblick lang nicht aufpaßt, dann hat er ihn. Von sieben Pellet-Brüdern haben sieben leidenschaftlich geschwungen, in ländlichen Regionen ein durchaus üblicher Proporz. Drei davon sind noch aktiv. Sie gleichen einander, "wenn man einen kennt, kennt man uns alle". Wobei Hans-Peter sportlich der erfolgreichste ist, der Matador der Westschweiz. Und das, obwohl manche Gegner ihn um einen Kopf überragen. "Doch man muß mit dem arbeiten, was man hat." In seinem Fall fast hundert Kilo Kampfgewicht und ein Kreuz wie ein Schrank. Hans-Peter lebt für seinen Sport. Bei Fragebögen macht er in der Rubrik "Hobby" einen Strich. Sein Hobby ist das Training im Schwingklub Sense. Was keine Drohung sein soll, sondern der Name des örtlichen Flüsschens. Dort treten die Brüder fast jeden zweiten Abend an. Wenn sie hinterher nicht mit Sägemehl paniert sind, war es kein echter Kampf. Ansonsten aber sei Schwingen ein friedlicher Sport, betonen sie. Untereinander herrsche Kameradschaft, und selbst bei Großveranstaltungen gebe es nie Krawall. Auch privat geben sich die Schwerathleten ausgesprochen friedliebend. Hans-Peter war außerhalb des Rings noch nie in eine Rauferei verwickelt: "Ich würde einem Kampf auch immer aus dem Weg gehen." Doch man braucht ihn nur anzusehen und weiß, daß es sich umgekehrt verhält: Der Kampf geht ihm aus dem Weg.

 

Oskar Betschard, Musikant, Mühlau (Aargau)
Der Wind wird den Geruch frischen Sägemehls vom Schwingplatz herüberwehen, die Schlachtrufe, das Gewoge der Stimmen, und mittendrin das Lachen seines Vaters, den er auch unter tausend Leuten noch heraushört. Im Hintergrund wird vielleicht Ländlermusik spielen, während oben am Hang die Banner knattern. Oskar Betschard wird den Passanten lauschen, wie sie miteinander schwatzen in ihren Sprachtrachten, den Dialekten aus vielerlei Regionen. Sehen aber wird er nichts von alledem. Betschard ist blind. Retinitis pigmentosa, fortschreitende Netzhautdegeneration. Vor zwölf Jahren, als das letzte Fest stattfand, vermochte er noch etwas zu sehen, wenn auch nur mehr wie durch eine Röhre. Die Röhre schloß sich schließlich ganz. Damals begann er, Schwyzerörgeli zu lernen. Nahm Stunden bei einer achtzigjährigen Dame, die ihn an eine ungebrochene Tradition Aargauer Volksmusik anschloß. Freilich mußte er allein nach Gehör und Gedächtnis lernen. Sobald er nach Hause kam, spielte er die Stücke wieder und wieder, um sie ja nicht zu vergessen. Heute hat er etwa siebzig im Repertoire. Die gibt er auf Hochzeiten, Geburtstagsfeiern, Heimatabenden zum Besten, oft im Duo mit seiner Schwester Edith. Diese Musik, sagt er, sei wie er: leicht und lustig. Wenn er sein Instrument auf den Schoß hievt, umgreift er drei Oktaven guter Laune. Melancholische Stücke schätzt er dagegen nicht. Betschard arbeitet in der Personalabteilung einer Krankenversicherung und sitzt viel am Computer. Statt am Bildschirm liest er mit flinken Fingern auf einem Braille-Terminal, und eine Roboterstimme sagt ihm die Menübefehle an. Seine Arbeit bedeutet ihm viel. Auch seine Freundin hat er dort kennengelernt. Er war eigentlich gar nicht auf der Suche, aber sie wollte ihn eben. Beide gehen sie gern ins Kino. Geballer von links, Reifenquietschen von rechts, dabei unterhält Betschard sich vorzüglich. Den Rest sieht seine Freundin für ihn mit.

 

Ernst Schilt, Alphornbläser, Iseltwald (Berner Oberland)
Die Menschen mögen über das Alphorn geteilter Meinung sein - die Murmeltiere aber lieben es. Zwar verschwinden sie zunächst in ihren Stollen, wenn Ernst Schilt mit seinem Horn auf der Alp anrückt. Doch sobald er es erschallen läßt, lugen sie alle wieder hervor. Horch, welch ein Klang! Wie er aus der Tiefe tönt, wie er sich bläht und aufsteigt und die Welt zum Schwingen bringt. Die besten Instrumente stammen von hier oben: Aus dem Holz langsam wachsender Tannen fertigt Schilt binnen achtzig Stunden ein Horn. Man kann sagen, daß das eigentliche Auditorium des Alphorns die Berge sind. Von dorther kommt der Klang, dort will er wieder hin. Weshalb es im Flachland oder im Konzertsaal auch nie richtig tönt. "lch muß schon etwas im Rücken haben", erklärt Schilt. In Holland etwa fand er keinen Widerhall; das Publikum war trotzdem begeistert. Und erst in Japan! Doch nirgendwo erklingen seine Hörner schöner als im heimischen Oberland. Ohne das Unspunnenfest wäre diese Kunst womöglich in Vergessenheit geraten. 1805 nämlich fanden sich ganze drei Spieler dazu ein! Woraufhin Schulen und Kurse eingerichtet wurden, um dieses musikalische Urvieh vor dem Aussterben zu bewahren. Seither sorgte sich noch jede Generation um den drohenden Niedergang des Alphornspiels. Ernst Schilt behob das Nachwuchsproblem auf seine Art. So wie er die Hörner eigenhändig herstellt, zog er sich auch die Bläser selbst heran. Mit seinen Töchtern Kathrin, Christine und Fränzi spielte er erst im Duo, dann im Trio und schließlich im Quartett. Es liegt ihnen wohl im Blut. Schon ihr Großonkel blies sonntags an den Gießbachfällen. Nicht etwa für Geld, sondern sich und anderen zur Freude. Und wer weiß, vielleicht war sogar jener Alphirte, der Johannes Brahms zu seiner berühmten Naturfanfare in der ersten Sinfonie inspirierte, ein Urahne der Schilts. Brahms weilte hier am Thunersee, als von weither ein feierlicher Ruf erscholl. Wie vom Donner gerührt, sandte er die Melodie sofort an Clara Schumann: "Also blus das Alphorn heut'!" Mögen sie noch viele Jahre blusen!

 

I viscui furmighin, Kindertrachtengruppe, Poschiavo (Graubünden)
"Wir werden also wieder einmal die Exoten sein", verkündet Monica Godenzi gut gelaunt. Nachdem die Tessiner Vereine sich diesmal nicht am Fest beteiligen, wird nur die Abordnung aus Poschiavo die italienische Schweiz vertreten. Aber wie! Allein I viscui furmighin, die lebhaften kleinen Ameisen, rücken mit 32 Teilnehmern an. Dabei haben sie einen noch weiteren Weg als die Tessiner. Denn zwischen dem Puschlav und der übrigen Schweiz liegt ja "der Berg". So verharmlosen sie gewöhnlich das viertausend Meter hohe Massiv mitsamt dem Piz Bernina, dem Piz Palü und deren Gletschern. Aber das hat sie noch nie abgehalten: "Wir stellen uns immer zur Verfügung." Die Kinder nennen Godenzi insgeheim "die Generalin". Sie hört es nicht gerne, es klingt nach Damenbart und Rohrstock, aber um so eine Kinderschar auf Reisen zusammenzuhalten, braucht es schon militärisches Genie. Auch die Choreographie käme ohne einen gewissen Drill nie zustande. Die jüngsten lernen ja gerade erst, wo links und rechts ist. Wie sollten sie die Takte richtig zählen können? So schielen sie denn beim Tanzen eifrig nach der Prinzipalin. Sie hat sich als würdige Nachfolgerin von Gritli Olgiati erwiesen, die vor 66 Jahren die Trachtengruppe mitbegründete und sie noch immer leuchtenden Auges begleitet. Mangels verbindlicher Überlieferung erschufen die Puschlaver ihre Tracht damals neu. Die Alltagstracht lehnten sie an die der Veltliner Nachbarn an, die Festtracht an Vorbilder aus der Biedermeierzeit. Die ortsansässige Weberei, eine der vortrefflichsten der Schweiz, stellt die Stoffe bis heute von Hand her. Die Sonne schneidert daran mit: die Strohhüte, die Baumwollgürtel, die halblangen, luftigen Puffärmel, die künden schon vom Süden. Noch besser wäre es freilich, wenn sie ihre elegante Piazza, ihre gemütlichen Gassen und ihre barocken Palazzi mit auf Tournee nehmen könnten. Eine aparte kleine Welt, dieses italienisch Bünden, gleich hinterm Berg, auf der Sonnenseite des Lebens.

 

 

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